Das Museum Eberswalde lotet neues Format der Kulturellen Bildung aus
Als Stadt- und Regionalmuseum stehen die Mitarbeiter:innen des Museums Eberswalde stets vor der Frage, wie Kindern Geschichte möglichst lebendig vermitteln werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung stellt das Museum im Herbst 2021 einen Projektantrag im Rahmen des Förderformats „Museum macht stark“. Unter dem Titel Stadtgeschichte!? Was hat das mit mir zu tun? erhält das Museum Eberswalde schließlich die Bewilligung einer Förderung für eine Museums-Zeitreise mit Grundschüler:innen innerhalb eines zehntägigen Ferienangebots. Die Idee des Projektes ist es, Eberswalder Stadtgeschichte der vergangenen 100 Jahre mit eigener Familiengeschichte zu verknüpfen und auf Spurensuche durch die Generationen zu gehen: im Museum, im Stadtraum und in der Familie.
In den Osterferien 2022 geht das Zeitreise-Team schließlich an Bord: 10 Kinder im Alter von neun bis elf Jahren von vier Eberswalder Grundschulen sowie drei Fachkräfte werden in den kommenden zehn Tagen als Spurensucher und Rätselfüchse das Museum und den Eberswalder Stadtraum unsicher machen. Der Nordflügel des Museums – ein Anbau aus dem 19. Jahrhundert - wird zum Basislager umfunktioniert. Im alltäglichen Museumsbetrieb genutzt mit einer Doppelfunktion aus Beratungsraum und Pädagogikwerkstatt, prägen nun Rucksäcke, Logbuch, Fotomaterial, wetterfeste Kleidung und bunte Sitzkissen das Innenleben des Gebäudes. Die 10 Projekttage sind klar strukturiert: nach einem Willkommenstag mit Kennenlern-Spielen der Zeitreise-Kinder und des Museums bilden fortan jeweils zwei Tage einen Zeitepochen-Block.
Doch wie kann man sich einen Zeitreise-Tag im Museum nun konkret vorstellen?
Die Gruppe startet ihre erste Spurensuche durch die Eberswalder Zeitgeschichte in den 1920er Jahren. Der Tag startet um 9.00 Uhr mit einer Begrüßungsrunde. Anschließend ist bis zur Mittagspause Raum für das intensive Eintauchen in die Goldenen Zwanziger Jahre. Mit den Kindern werden auf dem Zeitstrahl die 20er Jahre verortet und der Austausch beginnt: „Was wisst ihr über diese Epoche? Welche Generation hat in dieser Zeit gelebt? Konntet ihr Bilder oder Geschichten über eure Ur-ur-Großeltern sammeln? Wie war das Alltagsleben der Menschen damals, also die Kleidung, das Essen, die Schule, Spiele etc.“ Das Sprechen ÜBER die Zeit wird verknüpft mit Objekten AUS der Zeit, wo die Gruppe im Museum fündig wird. Nach dem Mittagessen geht es in den Stadtraum - zu den Spuren des ehemaligen Stadttheaters und der städtischen Badeanstalt am Finowkanal. Natürlich wird auf dem Weg dorthin Swing-Musik gehört und bei einem Eis am Wasser über die skurrile Bademode der 20er Jahre gelacht. Zurück im Museum wird es für die Gruppe kreativ: Die Kinder arbeiten über den gesamten Projektzeitraum an eigenen dreidimensionalen Papiertheatern, die sie mit gesammelten Merkmalen aus der jeweiligen Zeitepoche bestücken. Epoche für Epoche füllen sie ihre Pop-Ups mit Leben – ganz nebenbei spaziert Ururopa durch die Kulisse. Der Tag endet um 16:00 Uhr mit einer Abschlussrunde des Erlebten und der Neugier auf den morgigen Reiseabschnitt.
Nun sind die kleinen Zeitreisenden mittendrin auf ihrer Expedition durch die Geschichte: Über die 1920er Jahre geht es weiter zur NS-Zeit und zum Zweiten Weltkrieg, dann zur Teilung Deutschlands und dem Leben in der DDR und schließlich zur Wende und der Wiedervereinigung. Die Kinder erarbeiten sich lebendig, interaktiv und spielerisch Hintergrundwissen aus den jeweiligen Generationen und verknüpften dieses stets mit ihren eigenen Familiengeschichten. Die unterschiedliche Herkunft der Kinder spielt im Austausch der Gruppe eine große Rolle, so erkennen einige die Arbeitsstätten ihrer Eberswalder Großeltern wieder, für andere sind Krieg und Fluchterfahrungen nicht nur in der Vorstellungskraft lebendig. Die Reise durch die verschiedenen politischen Systeme endet in der Gegenwart mit Blick in die Zukunft. Gemeinsam diskutieren wir: „In was für einer Stadt wollen wir leben und wie können wir uns in die Gestaltung unserer Stadt einbringen? Was ist gemeint mit Begriffen wie politische Teilhabe und gelebte Demokratie?“ Eberswalde hat seit April 2022 einen neuen Bürgermeister und die Kinder werden aktiv: In einem Brief an den neuen Bürgermeister Götz Herrmann formulierten sie Wünsche und Ideen für eine lebenswerte, friedvolle und bunte Stadt Eberswalde. Und wieder wird überlegt: „Was sind sinnvolle und nachhaltige Ideen für den Stadtraum, was könnte im Ermessen des Bürgermeisters liegen und was nicht?“ Ein Auszug aus dem fertigen Brief zeigt die Fähigkeit von Kindern sich mit ihrer Umgebung kritisch auseinanderzusetzen und dabei kluge Ideen zu entwickeln: „[…] Wir haben in den Osterferien eine Zeitreise durch die letzten hundert Jahre Stadtgeschichte von Eberswalde gemacht. Dabei haben wir viel darüber erfahren, wie Menschen gemeinsam richtig was verändern können. Das wollen wir auch! Deshalb möchten wir Ihnen sagen, was uns für die Zukunft von Eberswalde am allerwichtigsten ist. Wir bitten Sie, unsere Ideen und Wünsche als neuer Bürgermeister ernst zu nehmen. Sehr wichtig sind uns bessere Fahrradwege, weil sich manche von uns gar nicht trauen, mit dem Rad zur Schule zu fahren, weil die Autos so dicht an uns vorbeifahren. In Ostend gibt es in vielen Straßen gar keinen Radweg, da ist es dann extra gefährlich. (…) Die Schule beschäftigt uns natürlich sehr, weil wir da ja fast jeden Tag sind. Oft ist es in unseren Klassen sehr unruhig und es gibt viel Gewalt unter den Kindern. Die Lehrer brauchen Hilfe dabei, es friedlich zu halten. Deswegen bitten wir Sie um mehr Sozialarbeiter bei uns in den Schulen. […].[Auszug aus dem Bürgermeister-Brief der Grundschüler an den Eberswalder Bürgermeister Götz Herrmann, vom 23.04.2022]
Der letzte Tag steht im Zeichen des Abschlussfestes! Die Kinder beenden ihre Pop-ups, Eltern und Verwandte werden in den Museumsinnenhof eingeladen und bei Saft, Kuchen und Musik wird die geglückte Rückkehr der Zeitreisenden gefeiert. Höhepunkt der Abschlussfeier für die Kinder stellt die Begegnung mit dem Eberswalder Bürgermeister dar. Persönlich überreichen ihm die Kinder ihren Brief und präsentieren dem interessierten Stadtoberhaupt die Ausstellung ihrer Pop-ups. Für alle zehn Kinder steht am Ende des Tages fest: „…nächstes Jahr in den Ferien sehen wir uns wieder im Museum!“
Lisa Wedekind